Gelandet auf Venedigs kleinem Flughafen Marco Polo und gleich in der Ankunftshalle ein Ticket der Linea Arancio ( Linie Orange ) der Bootslinie Alilaguna gekauft. Nun geht es mit noch anderen Touristen etwa 10 Minuten entlang eines überdachten Fußweges zum Bootsanleger. Das Hybrid-Boot der orangenen Linie schwankt im Schritttempo mit 7 km/h durch den ausgewiesenen Kanal in Richtung Venedig. Im Schiffsbauch sitzen wir gegenüber wie im Wartezimmer einer Arztpraxis. In der Mitte des Bootsrumpfes stapelt sich das Handgepäck, oben beim Einstieg stehen unsere Koffer. Alle schauen nun ganz aufgeregt und interessiert durch die schmalen Bootsfenster in Richtung der Lagunenstadt. Die Kameras werden gezückt und ein Photo nach dem anderen von der in der Ferne liegenden Silhouette Venedigs abgelichtet. „Venedig sehen und sterben“ meinte Thomas Mann – belassen wir es doch lieber beim Sehen, Flanieren, Erleben und Genießen.
„VENEDIG SEHEN UND STERBEN“
Thomas Mann
Die schöne Stille im Winter – die Winter-Melancholie gibt der Stadt ein ganz anderes Gesicht als der Rummel des Sommers mit den vielen Touristenströmen. Das mattierende Licht dieser Jahreszeit bei bedecktem Himmel entsättigt etwas die Farben der alten Paläste oder lässt sie in der weichen Wintersonne noch farbiger und intensiver erscheinen. Diese Stadt ist einzigartig, denn wo sonst gibt es Gondeln statt Autos, Vaporetti statt Stadtbussen oder Kanäle statt Straßen und natürlich die Biennale, den weltberühmten Karneval und das Acqua alta ( Hochwasser ). Kein Auto, kein Bus, kein Motorrad, kein Fahrrad, kein Hupen, kein Bremsen – nur das Rauschen der Wellen in den Kanälen, das Knattern der Schiffsmotoren, das Läuten der vielen Kirchenglocken, der Schrei der Möwen, die Musik aus den Fenstern, das Parlare / Reden der Einwohner und ab und an das Singen der Gondolieri. Allein schon die Namen der sechs Stadtteile ( Sestrieri ) des Centro Storico ( historischer Stadtteil ) klingen wie Opernnamen – Cannaregio, Castello, Dorsoduro, San Marco, San Polo und Santa Croce. Dazu kommen noch die Inseln Isola della Giudecca, Burano, Murano, Torcello, die kleineren Inseln der Isole Minori und der Lido. Und nicht zu vergessen, Venedig ist die Lieblingskulisse der Liebenden in einer einzigartigen Lagunenromantik.
Venedig ist eine Stadt der Künstler, der Geschichten, der Kanäle und der Palazzi mit morbidem Charme, der melancholische Charme des Zerfalls. Aber vor allem reich an unverhofften Winkeln, verwunschenen Gassen und Plätzen, die immer wieder Verzückung und Erstaunen hervorrufen. Es reichen ein paar Schritte weg von den ausgetretenen Touristenpfaden und man kommt in eine ganz andere Welt. Die Route durch Venedig heisst Zufall und ohne Ziel. Besonders schön auch die magische Ruhe des Abends und der Nacht an den Kanälen zu spüren oder ein Acqua alta mitzuerleben. Im letzten Schimmer des Tages zeigt Venedig sein Traumgesicht. Das Wasser der Kanäle reflektiert und spiegelt die Lichter, Kirchen, Paläste und Brücken. Und dann die farbenprächtige und lebhafte Wasserstraße – der Canal Grande. Er durchzieht den Stadtkern S-förmig in einer Länge von fast 4 km und ist die logistische Schlagader der Stadt. Anders als in den Seitenkanälen herrscht auf dem Canal Grande den ganzen Tag Hochbetrieb. Gondeln dümpeln mit Touristen vorbei, Vaporetti schippern von Haltestelle zu Haltestelle, Alilaguna-Boote vom oder zum Flughafen voll mit Touristen und dazwischen tuckern Lastkähne. An beiden Ufern des Canal Grande die vielen schönen Palazzi. Welchen Aufwand es macht, diese auf Holzpfählen errichteten Gebäude zu erhalten, verrät die rückseitige Ansicht. Einige Paläste verdanken ihre Standhaftigkeit nur noch dem Nachbarpalazzo, an den sie sich noch fest anlehnen können. Die Venezianer leben wie in einem Freilichtmuseum, zwischen Alltag, Pracht und Kommerz. Und jedes Jahr kommen neue Höchststände an Besucherströmen. An manchen Tagen hat der berühmte Markusplatz sogar mehr Besucher als Einwohner in der Stadt leben. Den Venezianern bleibt einfach nur noch die Statistenrolle auf der Bühne ihrer Heimatstadt. Was hat die Zeit nun Venedig gebracht? Bäckereien, Metzgereien oder Buchhandlungen wurden in Nobelboutiquen oder chinesische Touristengeschäfte mit Souvenir-Billigware verwandelt oder in Pizzabuden mit ausländischen Bediensteten. Nicht angemeldete illegale Touristenguides führen Touristengruppen gegen Bezahlung und Schwarzgeld durch die Stadt. Der venezianische Alltag und die Infrastruktur einer Stadt verschwindet immer mehr. Natürlich lebt in Venedig alles vom Tourismus, er ist Fluch und Segen dieser Stadt. Unterhält man sich mit den Venezianern, dann hört man immer wieder: Wir leben wie in einem Altersheim, die jungen Leute ziehen weg und die Alten bleiben mit den Touristen hier. Mittlerweile vermietet kaum noch ein Venezianer einem anderen Venezianer eine Mietwohnung. Es gibt jetzt mehr Privatvermieter von Zimmern für Touristen als Hotelzimmer in Venedig und immer mehr Ausländer kaufen für teures Geld die alten Palazzi auf. Die Altstadt blutet langsam aus. Das Besondere aber ist dabei immer noch, dass wir hier gut funktionierende Nachbarschaftsbeziehungen haben und im Winter Venedig wieder mit Ruhe zu sich selbst findet.
„VENEDIG IST DER ROMANTISCHSTE ORT DER WELT.
ABER NOCH BESSER WENN NIEMAND DA IST“
Woody Allen
Entlang der Kanäle kann man sich treiben lassen und dabei unzählige Kaffeebars und Bacari (typische Weinlokale) sehen. Für einen Cappucchino, Espresso, Macchiatone, Ristretto, Sprizz oder Wein findet man hier immer Zeit. Empfehlenswert ist das Antica Torrefazione di Caffè in Cannaregio. Für einen Kaffee im Stehen zwischendurch die optimale Adresse. Und wer bei oder nach einer Erkundungstour eine Kleinigkeit essen möchte, der sollte in einem Bacaro bei einem Glas Wein oder Sprizz ein paar Cicchetti – eine Art italienische Tapas – essen. Die besten Cicchetti gibt es in Dorsoduro in der Cantine del Vino Gia Schiavi oder der Osteria Al Squero. Je mehr Cicchetti man käuft, um so billiger je Stück werden sie – auf die Preistafeln achten! Beide Weinlokale liegen an der Fondamenta Nani und am Rio de S. Trovaso. BUON APPETITO – Essen sollte man in Venedig abseits der Hauptrouten in Restaurants, in denen die Venezianer selbst zum Essen gehen. Hier bestimmt oft das tägliche Angebot auf dem Gemüse- bzw. Fischmarkt die Speisekarte, falls es überhaupt eine Speisekarte gibt. Einfach überraschen lassen und geniessen wie bei der einfachen kleinen Trattoria Bertolini Marialuisa (ehemals Da Marisa). Hier kocht die Familiencrew täglich frisch immer nur ein bodenständiges venezianisches Menü und es wird gegessen, was auf den Tisch kommt. Dazu gibt es einen halben Liter Weisswein, eine Flasche Wasser und am Menüende einen Espresso. Das Fischmenü besteht z.B. aus den Antipasti: zerkleinerter Stockfisch mit Polenta, Carpaccio von mariniertem Seebarsch auf Rucola, gegrillte kleine Moschuskragen in Tomatensugo und gefüllte gratinierte Miesmuscheln. Der Primo Piatto: Fischlasagne aus drei verschiedenen Fischsorten. Der Secondo Piatto: frittierte Calamari, Gambas und Stockfisch. Das Dessert: Mandel-Likör-Mascarpone mit Amarettini. Das ganze Menü mit Getränken für 35,- € pro Person. Es empfiehlt sich frühzeitig einen Tisch zu reservieren.